Am 22.02.2011 referierte Herr Prof. Dr.-Ing. Justin Geistefeldt von der Ruhr-Universität Bochum zum Thema „Kooperative Telematiksysteme – Perspektiven für das Verkehrsmanagement“.
Herr Prof. Geistefeldt ist Nachfolger von Prof. Brilon als Inhaber des Lehrstuhls für Verkehrswesen – Planung und Management an der Ruhr-Universität Bochum. In seiner früheren Tätigkeit beim Hessischen Landesamt für Straßen- und Verkehrswesen war er u.a. für das Forschungsprojekt „Sichere intelligente Mobilität – Testfeld Deutschland (simTD)“ zuständig.
Telematiksysteme im Verkehr unterteilen sich zunächst grob in infrastruktur- und fahrzeugseitige Anwendungen. Infrastrukturseitig werden kollektive Telematiksysteme eingesetzt, deren Steuerung im Wesentlichen auf der Grundlage lokal erfasster Verkehrsdaten erfolgt. Zu den kollektiven Telematiksystemen zählen u.a.:
Ø Netzbeeinflussungsanlagen,
Ø Streckenbeeinflussungsanlagen,
Ø Temporäre Seitenstreifenfreigabe,
Ø Knotenbeeinflussungsanlagen,
Ø Parkleitsysteme.
Als Ziele dieser Maßnahmen stehen
Ø die Erhöhung der Verkehrssicherheit,
Ø die Homogenisierung des Verkehrsablaufes,
Ø die Reduzierung von Lärm und Schadstoffen sowie
Ø eine verbesserte Kapazitätsauslastung
im Vordergrund. Untersuchungen der Wirkungen von Streckenbeeinflussungsanlagen auf Autobahnen zeigen z.B. eine signifikante Abnahme der Unfallraten sowie eine deutliche Verringerung der Varianz der Verteilungsfunktion der Kapazität infolge der Homogenisierung des Verkehrsablaufs. Eine besonders effektive Maßnahme zur Erhöhung der Kapazität von Autobahnen in Spitzenstunden ist die temporäre Seitenstreifenfreigabe, mit der die Kapazität einer dreistreifigen Richtungsfahrbahn um etwa 20-25 % gesteigert werden kann. Diese Maßnahme wird z.B. im Land Hessen auf den Autobahnen im Ballungsraum Rhein/Main erfolgreich eingesetzt.
Auf der Fahrzeugseite stehen autonome Fahrerassistenzsysteme wie z.B.
Ø Antiblockiersystem (ABS),
Ø Elektronisches Stabilitätsprogramm (ESP),
Ø Adaptive Cruise Control (ACC),
Ø Bremsassistent,
Ø Automatische Notbremsung,
Ø Spurhalte- und Spurwechselassistent,
Ø Verkehrszeichenerkennung
zur Verfügung, um durch die Unterstützung des Fahrers, insbesondere in unfallkritischen Situationen, zur Vermeidung von Unfällen bzw. zur Verringerung der Schwere von Unfällen beizutragen. Autonome Fahrerassistenzsysteme sind in ihrer Wirkung maßgeblich dadurch begrenzt, dass nur die unmittelbare Umgebung des Fahrzeugs durch Sensoren erfasst werden kann.
Hier setzt die Idee der kooperativen Telematik an: Durch den Datenaustausch zwischen Fahrzeugen untereinander und mit der Infrastruktur wird allen Beteiligten eine entscheidend erhöhte Informationsdichte zur Verfügung gestellt. Unterschieden werden:
Ø C2C = Car-to-Car, Kommunikation zwischen Fahrzeugen,
Ø C2I = Car-to-Infrastructure, Kommunikation zwischen Fahrzeugen und Infrastruktur, sowie
Ø C2X als Summe der beiden vorgenannten Kommunikationsarten.
Bei der C2X-Kommunikation erfolgt ein Datenaustausch zwischen den Fahrzeugen, über mehrere Fahrzeuge hinweg und zur Verkehrsleitzentrale, welche diese Daten auswerten und selbst Daten einspielen kann. Der Datenaustausch über mehrere Fahrzeuge hinweg ermöglicht eine frühzeitige Information der Fahrer über Ereignisse auch außerhalb der Funkreichweite des eigenen Fahrzeugs.
Die C2X-Kommunikation kann über verschiedene Übertragungswege umgesetzt werden. Zum einen kommt der WLAN-Standard IEEE 802.11p in Betracht, der einen für Anwendungen der Verkehrstelematik reservierten Frequenzbereich nutzt und eine Funkreichweite von etwa 500 Metern ermöglicht. Für die Umsetzung der Fahrzeug-Infrastruktur-Kommunikation wären hier erhebliche Investitionen in straßenseitige Kommunikationseinrichtungen erforderlich. Die Komponenten der C2X-Kommunikation mittels WLAN sind die fahrzeugseitigen „ITS Vehicle Stations“ (IVS), die straßenseitigen „ITS Roadside Stations“ (IRS) und die zentralenseitige „ITS Central Station“ (ICS).
Ebenfalls denkbar ist die Datenübertragung zwischen Fahrzeugen und Infrastruktur mittels Mobilfunk (z.B. UMTS oder Nachfolgestandards), für die eine flächendeckende Kommunikationsinfrastruktur bereits weitgehend vorhanden ist. Durch die systembedingten Umwege der Informationen über die Mobilfunkprovider ergeben sich hier allerdings ungünstigere Latenzzeiten.
Beispiele für Anwendungen der C2X-Kommunikation sind:
Ø Warnung vor Gefahren im Straßenraum:
o Stauende,
o Baustellen,
o Unfallstellen / Hindernisse,
o Witterungsbedingte Gefahren,
o Einsatzfahrzeuge,
Ø Elektronisches Bremslicht,
Ø Kreuzungsassistent,
Ø Netzsteuerung und Navigation,
Ø Verkehrszeichenanzeige im Fahrzeug,
Ø LSA-Steuerung,
Ø Ampel-Phasen-Assistent.
Nutzenpotentiale der C2X-Kommunikation für das Verkehrsmanagement sind insbesondere
Ø die Erweiterung der Datengrundlage für die Netzsteuerung,
Ø eine weitere Erhöhung der Verkehrssicherheit,
Ø daraus resultierend eine Vermeidung von unfallbedingten Störungen,
Ø eine höhere Verkehrseffizienz und
Ø eine Optimierung der LSA-Steuerung.
Darüber hinaus könnte die erforderliche Vereinheitlichung der Systemarchitekturen zu einer besseren Vernetzung der Verkehrsrechnerzentralen führen.
Ein Beispiel für eine C2X-Anwendung mit hohem Nutzenpotential für das Verkehrsmanagement ist die Baustellenwarnung. Hierbei werden mittels GPS erfasste Positionsdaten von Tages- und Dauerbaustellen von der Zentrale an die Fahrzeuge gemeldet, die sich der Baustelle nähern. Die dafür erforderliche automatisierte Erfassung und Weiterleitung der Position von Wanderbaustellen mittels GPS an die Verkehrsleitzentrale ist im Land Hessen bereits im Rahmen des Projekts DORA („Dynamische Ortung von Arbeitsstellen“) erfolgreich umgesetzt worden.
Eine weitere typische C2X-Anwendung ist die Stauendewarnung. Dabei wird ein Stauende anhand der gleichzeitigen Bremsvorgänge mehrerer Fahrzeuge an einem Ort auf einer Autobahn detektiert und als Warnung an die nachfolgenden Fahrzeuge weitergeleitet. Im Vergleich zur Verkehrserfassung durch lokale Detektoren und der Informationsübermittlung an die Fahrer z.B. durch die Anzeigequerschnitte von Streckenbeeinflussungsanlagen sind somit örtlich und zeitlich deutlich exaktere und schnellere Meldungen möglich. Bei einer vollständigen Ausstattung von Fahrzeugen mit C2X-Technologie wäre es langfristig sogar denkbar, Streckenbeeinflussungsanlagen durch rein virtuelle Systeme zu ersetzen.
Als Beispiel für die laufenden Forschungsaktivitäten zur Entwicklung und Erprobung der C2X-Kommunikation stellte der Referent das Projekt simTD vor, in welchem erstmals das Zusammenwirken verschiedener C2X-Anwendungen in einem groß angelegten Feldversuch erprobt werden soll. Das Projekt wird durch das BMWi, BMBF, BMVBS und das Land Hessen gefördert. Der Feldversuch soll im Jahr 2012 im Großraum Frankfurt am Main stattfinden und Autobahnen, Bundesstraßen und innerstädtische Bereiche einschließen. Für den Feldversuch werden 400 Fahrzeuge mit C2X-Technologie ausgestattet, von denen 100 Fahrzeuge mit konkreten Fahrtaufträgen gesteuert werden, während die übrigen Fahrzeuge frei verkehren. Versuche, die eine Ausstattungsrate von 100 % erfordern, finden auf einem abgeschlossenen Testgelände statt.
Für eine Einführung der C2X-Technologie in den Regelbetrieb sind verschiedene Szenarien wie z.B. die Beschränkung auf C2C-Anwendungen oder die Einführung eines Gesamtsystems mit Anwendungen der C2C- und C2I-Kommunikation denkbar. Zunächst ist jedoch neben dem Nachweis der technischen Machbarkeit und des verkehrlichen Nutzens eine Reihe von Hürden zu überwinden. Voraussetzung einer Einführung kooperativer Systeme ist die EU-weite technische Standardisierung der Systemarchitektur. Darüber hinaus müssen für eine erfolgreiche Systemeinführung Fahrzeughersteller kooperieren, die ansonsten im Wettbewerb zueinander stehen. Zur Erreichung eines hinreichenden Durchdringungsgrades können anfänglich Anreizsysteme erforderlich werden, da die ersten Käufer zunächst nur einen geringen Nutzen aus dem System ziehen können. Ebenso steht die kooperative Telematik im Wettbewerb mit bereits eingeführten autonomen Assistenzsystemen, die sich ebenfalls weiterentwickeln. Schließlich sind auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Einführung von C2X-Systemen zu klären. Dies betrifft Fragen der Zulassung von Fahrerassistenzsystemen im Kontext der Regelungen des „Wiener Übereinkommens über den Straßenverkehr“, die straßenverkehrsrechtlichen Grundlagen für die Übertragung von Verkehrszeichen in die Fahrzeuge sowie Fragen der Amts- oder Produkthaftung bei Systemversagen.
Langfristig kann mit kooperativen Systemen ein erheblicher Zugewinn an Verkehrsqualität und -sicherheit erreicht werden. Durch die zusätzlichen Datenquellen und Informationswege der C2I-Kommunikation ergeben sich Potentiale für eine Optimierung des Verkehrsmanagements. Andererseits ist vor dem Hintergrund der erheblichen Hürden für eine Systemeinführung noch nicht absehbar, ob und in welcher Form die C2X-Technologie in den Regelbetrieb überführt werden kann. Die Umsetzungschancen sind nach Auffassung des Referenten dabei insbesondere vom Nachweis des verkehrlichen Nutzens kooperativer Systeme im Vergleich zu fahrzeugautonomen Fahrerassistenzsystemen abhängig.
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