Am 28.03. referierte Herr Johann von Aweyden Gründungsgeschäftsführer bei der Deutschlandtarifverbund-GmbH zum Thema
„Das Deutschland-Ticket: Ursprung - Entwicklung - Zukunft Wie die Tarif-Revolution nach Deutschland kam“
Herr von Aweyden ist seit 2004 für den Öffentlichen Nahverkehr tätig. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre in Kiel arbeitete er nach Stationen bei einem SPNV-Aufgabenträger und einem Verkehrsverbund seit 2008 für verschiedene Beratungsunternehmen – jeweils mit den Themenschwerpunkten Tarif, Vertrieb und Einnahmeaufteilung sowie ÖPNV-Organisation. Im Juni 2020 schließlich übernahm er das Amt des Gründungsgeschäftsführers bei der Deutschlandtarifverbund GmbH.
Mit der Bahnreform 1994 wurde im Eisenbahnverkehr ein wettbewerbliches System eingeführt, dessen Auswirkungen jedoch z.T. bis heute negativ bewertet werden. So beklagten die Wettbewerber der DB AG eine Diskriminierung bei Tarif und Vertrieb. Auf den Bahnhöfen waren ausschließlich DB-Reisezentren und Fahrkartenautomaten vorhanden, zudem waren die Personentarife der DB in allen Zügen anzuerkennen. Dennoch schlossen die Aufgabenträger zumeist Netto-Verträge mit den EVU ab, so dass diese trotz der genannten Behinderungen die Erlösverantwortung behielten.
Inzwischen hat sich in Deutschland ein überaus vielfältiges Tarifwesen im ÖPNV und SPNV entwickelt. Neben sehr sinnvollen Verbundstrukturen hat die föderale Aufgabenträgerlandschaft im Bemühen um Gerechtigkeit auch mannigfaltige Hintergrundsysteme für Einnahmeaufteilung und Tarif- und Verkehrskooperationen kreiert. In Deutschland gibt es inzwischen über 60 Tarif-und Verkehrsverbünde sowie einige Landestarife. Dieser hohe Grad an Komplexität ist heute nicht mehr sachdienlich.
Im Jahr 2022 wurde nunmehr der Deutschlandtarif eingeführt, ein zwischen allen beteiligten Eisenbahnen in Deutschland ausgehandelter, einheitlicher Nahverkehrstarif. Er löste die gesammelten Alt-Tarife zwischen den Eisenbahnen ab, die im TBNE organisiert waren. Grundlage ist weiterhin der DB- Tarif, der jedoch allen beteiligten EVU in diskriminierungsfreier Form zu Verfügung steht und damit die Bahnreform vollendet. Die Deutschlandtarif-Verbund GmbH sorgt für eine zeitnahe Einnahmeaufteilung, ein „Erlösmonitor“ informiert jedes Unternehmen und jeden Aufgabenträger mit Bruttoverträgen tagesaktuell über seine Einnahmeansprüche, über die sie innerhalb von 2 Tagen verfügen können, ein bedeutender Fortschritt gegenüber herkömmlichen Einnahmeaufteilungsverfahren, bei denen ein Abschluss z.T. erst nach mehreren Jahren rechtskräftig festgestellt war.
Die Deutschlandtarif-Verbund GmbH besteht aus 19 Aufgabenträgern und 47 EVU als Gesellschaftern. Vertragsgrundlagen bilden der Gesellschaftsvertrag und der Tarifanwendungs- und Einnahmeaufteilungsvertrag. Die Organe der Gesellschaft entscheiden auf der Basis einer transparenten Willensbildung nach dem Mehrheitsprinzip, so dass auch eine wirksame Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen gewährleistet ist.
Sie hat den Deutschlandtarif intensiv vorbereitet und ist nun auch mit dessen Umsetzung betraut. Das 9 EUR-Ticket, welches im Sommer 2022 für die Bürger angesichts corona- und kriegsbedingter Inflation temporäre Entlastung bringen sollte, hat diesem Start des neuen Tarifs eine unerwartete Dynamik verliehen.
Das damals auf politischer Ebene beschlossene Angebot „9 Euro für 90 Tage“ war zuvor mit niemandem aus der Verkehrswirtschaft abgestimmt gewesen, zwang aber die Verantwortlichen zur schnellen Umsetzung, anstatt zunächst nach Problemen und Hinderungsgründen zu suchen. Mit der plötzlichen Nachfragesteigerung wurde aber zugleich das Hauptproblem des ÖPNV in Deutschland, die zu geringe Kapazität, deutlich offengelegt.
Die Deutschlandtarifverbund GmbH konnte jedoch mit ihren effizienten Entscheidungsstrukturen zum Erfolg des Angebotes beitragen. Dies gelang, obwohl der ÖSPV außerhalb des SPNV hier gar nicht vertreten ist. Damit wurden aber auch Erwartungen in Richtung auf ein Nachfolgeangebot und einen notwendigen Ausbau des ÖPNV allgemein geweckt, denen von Seiten der Politik nunmehr Rechnung getragen werden muss
Zum 01.05.2023 steht die dauerhafte Einführung des Deutschland-Tickets an: "Ein Preis für den gesamten Nahverkehr in ganz Deutschland" lautet die griffige Formel für die Tarifrevolution. Es sind allerdings noch zahlreiche Detailfragen zu klären, um das Angebot dauerhaft verlässlich beibehalten zu können.
Die durch das 49.-€- Ticket verursachten Einnahmeausfälle sind für jedes Verkehrsunternehmen zu ermitteln. Dies ist umso schwieriger, je mehr die Aufgabenträger ihr bisheriges Tarifangebot beibehalten und sogar eigene Angebote in Konkurrenz zum 49.-€- Ticket entwickeln. Zwischen Bund und Ländern ist eine abschließende Einigung über die jeweiligen Finanzierungsanteile zu treffen. Mit der garantierten Fehlbetragsfinanzierung entfallen zugleich Anreize für Vertrieb und Marketing, obwohl einige größere Unternehmen das Angebot derzeit noch intensiv bewerben. Netto-Verträge dürften daher künftig in den Vergaben kaum noch eine Rolle spielen.
Auch die Semesterticketangebote sind hier anzupassen. Einige Studierendenvertretungen bemängeln zu Recht, dass die Gesamtaufwendungen für ein 49.-€- Ticket niedriger liegen als für die Semestertickets. Damit entfiele der Rechtfertigungsgrund für eine Solidarfinanzierung durch alle Studierenden, so dass Kündigungen der Semesterticketverträge zu befürchten sind, wenn hier nicht nachjustiert wird. Auf der anderen Seite wird für den Fall, dass das Deutschlandticket preislich über dem Semesterticket liegt gefordert, dass das Semesterticket mit einem geringen Aufschlag (etwa 12-19.-€ pro Monat) zu einem Deutschlandticket aufgewertet werden kann. Die Unternehmen haben hier sicherlich ein besonderes Interesse daran, diese große und auch in Corona-Zeiten treue Kundengruppe insgesamt zu behalten.
Weiterhin zu bearbeiten sind die unterschiedlichen Landesregelungen und Zusatznutzen der einzelnen Zeitkartenangebote, Mitnahmeregelung, Fahrradmitnahme, 1.Wagenklasse, Kinderaltersgrenzen, Hundemitnahme, Job-Ticket-Ermäßigung...Welche sollen zu welchem Aufpreis einheitlich gelten, bundesweit oder auf das Gebiet eines Aufgabenträgers beschränkt ?
In der anschließenden Diskussion bestand Einigkeit, dass der Ticketpreis von 49.- € keinesfalls einen derartigen Nachfrageboom auslösen wird wie seinerzeit das 9.-€ Ticket, insbesondere, wenn die Preisgestaltung der Zusatznutzen im Vergleich zu bisherigen Angeboten keine Vergünstigung mehr bedeutet. Eine erhöhte Nachfrage wird sich vermutlich bei Fernpendlern einstellen, die eine Aufgabenträger- / Verbundraumgrenze (z.B. zwischen Köln und Düsseldorf) überqueren und dafür bisher besonders hohe Fahrpreise zahlen müssen.
Als problematisch werden auch die derzeit noch ungeklärten Vertriebswege (Handy-App, Chip-Karten, Aufkleber, Papierform) angesehen.
Daher ist auch die bundesweite Einnahmeaufteilung noch vollkommen ungeklärt. Da das Ticket – auch in digitaler Form – keine Daten zu den von den Nutzern getätigten Fahrten als Grundlage generiert, wurde zum Start zunächst jetzt das nicht dauerhaft tragfähige Verfahren der schlichten Kompensation von Einnahmeausfällen jedes Verkehrsunternehmens im Vergleich zum Vorjahr vereinbart. Bund und Länder teilen sich den Betrag je zur Hälfte. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, dass die Beteiligten an dieser Regelung auch schon für das Jahr 2024 und darüber festhalten werden.
Letztlich hat sich die ÖPNV-Politik bislang zu einseitig auf das Ticketangebot konzentriert, der zeitgleich erforderliche Ausbau des ÖPNV allgemein wurde bisher noch nicht angegangen. Föderale Mitsprache und Detailregelungen sollten aber den verkehrspolitischen Erfolg der Maßnahme nicht mehr verhindern.
Im Ergebnis bietet also das 49.-€- Ticket die große Chance, den ÖPNV durch dauerhafte Nachfragesteigerung in der öffentlichen Wahrnehmung mehr ins Rampenlicht des öffentlichen Interesses zu holen, das z.T. bestehende schlechte Image abzulegen und die Bereitschaft der Politik zu vermehrten Investitionen zu fördern.
Link: https://deutschlandtarifverbund.de/